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Im Licht

Der Morgen bricht allmählich herein und sie spürt, dies ihr letzter Tag sein wird. Ella Bleidenstein liegt allein da. Sie blickt auf Ihre Hand. Blickt auf die unzähligen Furchen und Falten, die von ihrem Leben erzählen.

Wann war das eigentlich? Dieser eine Moment an dem alles anders wurde. Wann verflucht wurde aus "eines Tages" "es war einmal"? Und war eins von beiden wirklich das, worauf es ankommt?

Sie kann sich nicht mehr richtig bewegen. Alles schmerzt. Dieser schmerzende Druck auf ihrem Körper ist ihr ständiger Begleiter, seit sie älter geworden ist. Immer häufiger. 

Und neben ihn tritt die Angst. Angst vor dem Dunkeln der Ungewissheit. Ella hängt an ihrem Leben. Denn es ist doch trotzdem das einzige, was sie je hatte. Keiner weiß, was danach geschehen wird. Wie und ob es weiter geht.

Es geht ihr schlechter. Wieder dieser Druck. Ihr Herz schlägt mit einem Mal schneller, als pocht es eine Antwort darauf in ihrer Brust. Dann verliert sie das Bewusstsein. 

 

Als sie wieder zu sich kommt, ist da auf einmal ein Licht im Dunkeln. Zuerst ist es nur ein winzig kleiner Punkt, der schnell größer wird. Das Licht ist hell und leuchtet warmorange. Es hat etwas Magisches, dass sie in seine Richtung zieht.

Plötzlich hält sie inne. Sie spürt wieder Zweifel in ihr hochkriechen und doch trägt es sie weiter dorthin wie auf einer Welle. Sie findet sich in einem langen, engen Tunnel wieder. Auf der anderen Seite des Tunnels ist das helle Licht. Ella ist hier nicht allein. Da sind vertraute Stimmen, Geräusche die sie schon immer begleiten. Und die Zweifel weichen dem Vertrauen. Vertrauen, dass das Leben weiß, was richtig ist. Dass es sie in die richtige Richtung ziehen wird. So wie es das immer getan hat. Sie gibt sich dem Sog des Lebens hin.

Mit jeder Bewegung in Richtung Licht, fühlt sie auch einen kleinen drückenden Schmerz. Aber tut nicht jeder Abschied irgendwie weh? 

 

Dann ist sie im Licht. Umgeben von Frieden. Alles ist nun gut an diesem Junimorgen um 10:23 Uhr. Es gibt hier keinen Schmerz und keine Angst mehr. Sie sind mit dem neuen Augenblick Teil einer vergessenen Erinnerung. 

Auf der anderen Seite des Tunnels ist es kühl. Doch da sind Hände, die sie fest und warm halten. Sie umschließen mit vollkommener Geborgenheit. 

Auf der anderen Seite herrscht aber auch eine endlose Weite und nie gekannte Fülle. Es scheint, als wäre die Welt und ihr Leben darin nur ein ganz kleiner Teil dieser großen Wirklichkeit gewesen. 

Ella kneift die Augen zusammen. Das Licht ist so strahlend-hell, dass sie kaum etwas erkennen kann. Nur Licht und darin wenige Schattierungen. Wie ein großer Scheinwerfer, der auf einer Bühne auf sie gerichtet ist.

Plötzlich dröhnt ein Klang in ihren Ohren, massiv und klar. Als ob alles was sie je zuvor gehört hatte, wie durch eine dicke Decke gedämpft war. Ein kurzer Schreck durchfährt sie. Der Klang ist eine Stimme. Sie strengt sich an, um etwas zu verstehen aus den Gewirr von Geräuschen. Ella hört genau hin. Die Stimme spricht: "Es ist ein Mädchen. Meinen herzlichen Glückwunsch, Frau und Herr Bleidenstein."

 

 

Copyright: Ilonka Jung-Oferath

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